Worb - «Auf der Alp, da gibts ein Überleben»

Peter Helbling tauscht für zwei Monate Politik und Paragrafen ein gegen das Leben eines Knechtes auf der Alp Parwengenkessel.

Veronika Herren-Wenger, schweizerbauer.ch
Regen, Regen und noch einmal Regen. Um die einfache Hütte im Vorsass blubberte bald einmal ein See von Schlamm. «Habe ich nun das Zahnbürstchen mit, einen Regenschutz auf der Alp, trockene Hosen ...?» Peter Helbling, der es gewohnt war, virtuos mit Paragrafen zu jonglieren, der den Überblick über die verschiedensten Projekte nie verlor, er tat sich schwer mit dem Zigeunerleben auf der Vorsass. «Ich schlief mit Martin Herrmann, meinem Meister, in einem Raum, pendelte ständig zwischen Vorsass, Tal- und Alpbetrieb hin und her.» Und dann dieser Matsch, die grauen, feuchten, kalten Tage - «Wenn ich das durchstehe, werde ich alles andere ohne grosse Mühe schaffen», sagte er sich.

Peter Helbling hat sich keinesfalls blauäugig auf das Abenteuer «Knecht auf der Alp» eingelassen. «Ich erfülle mir meinen Bubentraum», schmunzelt er und wendet dabei gekonnt die Käselaibe. «Dass er ein Bauernsohn ist, einen Älplerkurs absolvierte, hat uns bewogen, ihn anzustellen», meinten Christine und Martin Herrmann. Und natürlich sollte es ein Schweizer sein. «Wir diskriminieren damit niemanden», betonen beide, aber der Papiekireg sei enorm, und «es ist auch mühsam, wenn der Knecht einen nicht versteht.» Es sei schon schwer genug, einem «Greenhorn» die Arbeit auf der Alp beizubringen, geschweige denn einem, der die Sprache nicht verstehe. Die vier Monate Alpzeit wird sich Peter mit Pascal Singeisen teilen.

Vom Alpvirus befallen

Nächstes Jahr kann Martin sein 30-Jahre-Jubiläum auf der Alp Parwengenkessel feiern. Er, seine Frau und die drei Töchter, ganz speziell die jüngste, könnten sich ein anderes Leben nicht vorstellen. «Wir haben den Virus in uns», lachen sie. Dass ein Fürsprecher, ein «Stubenhocker» und «Aktenmuffel» gar für zwei Monate ihr Knecht ist, damit bekunden sie überhaupt keine Mühe. Und warum sie ihn «Knecht» nennen? «Bei uns waren es immer Knechte, auch wenn es Frauen waren», meint Christine trocken. «Der Knecht lebt vier Monate auf engem Raum mit uns. In dieser Zeit ist er ein Familienmitglied.»

Der Duft der Alpen

«Enorm, was eine Kuh so an täglicher Scheisse lässt», ulkt Peter. Jeden Morgen holt er die Kühe von der Weide. Er klettert die Hügel rauf und runter, versucht die Kühe von ihrem Mist zu befreien - «der hüllt nicht selten auch die Euter ein», melkt, mistet aus, hilft beim Käsen, der Käsepflege, spaltet Holz und flickt Zäune ... «und hält sich erstaunlich gut», foppen ihn Martin und Christine. Peter ist nämlich nicht mehr der «Jüngste». Er trägt stolze 54 Jahre auf dem Buckel. Nach 29 Jahren Kopfarbeit sei es ein gutes Gefühl, wieder mal so richtig seinen Körper zu spüren. Warum aber ausgerechnet die Alp? Warum sich nicht den Duft der grossen weiten Welt um die Nase wehen lassen? Warum Alpenduft? Der 11.September war für den Fürsprecher ausschlaggebend. «Mein Bubentraum von der Alp nahm immer konkretere Formen an.» Gewiss sei er auch von Nostalgie getragen worden. «Das Leben auf der Alp hat sich im Vergleich zu dem, wie es in meiner Erinnerung lebte, extrem verändert.» Peter spricht nur von seiner Sicht der Dinge, wie er sie jetzt und hier auf der Alp erlebt, was er aus den Gesprächen mit Martin Herrmann erfährt.

Der Älpler überlebt

«Wird eine Alpschaft freigegeben, stehen die Anwärter Schlange». Martin Herrmann glaubt daran, dass das «Z Alpgehen» nicht wegrationalisiert werden kann. Nein, er ist überzeugt. «Wir sind (noch) nicht auf eine freie Marktwirtschaft angewiesen, wir vertreiben unseren Käse selber», und guter Alpkäse sei beliebt. «Sicher, auf der Alp bleibt die Zeit nicht stehen.» Er besucht Weiterbildungskurse und hat im Winter beim Skilift ein zusätzliches Einkommen.

Für VIPs Kinder hüten

«Auf der Alp, da gibt es ein Überleben.» Christine, die Frau von Martin, strotzt nur so von Energie. «Hier oben ist mein Leben.» «Und auch meins», fügt Cornelia, die jüngste Tochter, hinzu. Seit ihrer Heirat mit Martin nimmt Christine, kaum ist der Schnee geschmolzen, das Zigeunerleben auf sich. Vom Tal in die Vorsass, auf die Alp und wieder zurück. Immer genau wissen, wo man isst, wo man schläft. Drei Tage Ferien im Jahr. Für Cornelia ist das Älplerleben nicht wegzudenken. «Ich will einmal Lehrerin oder Bäuerin werden, aber ganz bestimmt will ich immer z Alp.» Cornelia liebt die Tiere, sie tränkt die Kälber, hilft selbst beim Käsen, wenn der Knecht ausfällt. «Am meisten freue ich mich immer auf die Ferienkinder.» Herrmanns betreuten zu ihren eigenen drei Töchtern immer noch Ferienkinder auf der Alp. Auch heute noch. Wenn auch nur jeweils eines. «Wir spielen jedes Jahr die gleichen Spiele, und doch ist es immer irgendwie anders», denkt Cornelia laut. Im Tal unten, in Lauenen, vermisst sie solche Spiele. Und die Mutter, Christine, was tut sie unten in Saanen, im Winter? «Ich bin mit meiner Dienstleistung, dem Hütedienst, total ausgebucht», strahlt sie. Ihr Angebot liegt in den Hotels auf. In den Nobelhotels und auch in anderen. Christine hütet Kinder der Promis, der VIPs. «Reiche Eltern haben es nicht leicht, wollen sie ihre Kinder so normal wie möglich aufwachsen lassen», hat sie erfahren, und auch, dass zu viel Geld ganz schön belastend sein kann «wenigstens in der Erziehung», schmunzelt sie. «Wenn wir gesund bleiben, unsere Freude behalten, unseren Virus pflegen, dann werden wir noch lange z Alp gehen» meinen sie unisono. Und Peter Helbling? Er wird erst einmal versuchen, der Herausforderung «Knecht auf der Alp» weiterhin gerecht zu werden, denn: «Ein bisschen habe ich mich wohl doch überfordert, das Alter nicht einberechnet, die Höhendifferenz.» Es sei kein Honigschlecken, dafür warmes, echtes Leben.
Peter Helbling ist wieder in Worb. Pascal Singeisen hat den Posten übernommen. Und wie denkt Peter Helbling über die Zeit als «Knecht» auf der Alp Parwengenkessel: «Diese zwei Monate haben mir gezeigt, wo meine Grenzen sind, vor allem körperlich.» Er möchte sie nicht missen.

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Veronika Herren-Wenger, schweizerbauer.ch
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Erstellt: 21.08.2002
Geändert: 21.08.2002
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