Oberdiessbach - Rochade schlägt hohe Wellen

In den Kommentarspalten dieser Zeitung (BZ) und in sozialen Medien macht sich Unmut darüber breit, dass Christoph Joss seinen Gemeinderatssitz Antonietta Arnet überlässt. Derweil zeigen politische Weggefährten im Dorf Verständnis.

Marco Zysset, BZ

Von «faulem Zauber und Wahlbetrug» ist in sozialen Medien die Rede. Es wird die Frage aufgeworfen, warum man überhaupt wählen gehe. Jemand meint lakonisch: «Alle Macht den Parteifunktionären?» Auf der Website dieser Zeitung schreibt ein Leser, Antonietta Arnet werde in Oberdiessbach «an die Macht geputscht»: Die Reaktionen waren zum Teil heftig, nachdem bekannt geworden war, dass Christoph Joss (SP) auf sein Amt als Gemeinderat verzichtet und so den Weg freimacht für die abgewählte Vorsteherin des Ressorts Bildung.

Proporz-Opfer

Rückblende: Am 25. September wurde Joss als bester SP-Vertreter wiedergewählt, Arnet fiel dem Proporz zum Opfer: Weil EVP und SVP ihren Wähleranteil zulasten von SP und FDP steigern konnten, fiel das Restmandat bei den Proporzwahlen anders als noch 2013 der SVP zu. Diese hat neu drei Vertreter im Rat. Die SP, die 2013 noch vom Restmandat profitierte, hat nur noch einen Sitz (wir haben berichtet).

Verständnis bei den Parteien

Wie schon vor vier Jahren wählten die Oberdiessbacherinnen und Oberdiessbacher die einzige Frau im Rat ab – ein Umstand, der bereits bei der Bekanntgabe des Wahlresultates bei den Vertretern aller Parteien Unverständnis auslöste.

Während im Volk – scheinbar vor allem ausserhalb des Dorfes – die Entrüstung bisweilen gross ist, hält sich der Unmut zumindest bei Oberdiessbachs Politikern in Grenzen: «Ich habe keine Freude, Christoph Joss als Ratskollegen zu verlieren. Aber ich freue mich, dass Antonietta Arnet Teil des Gremiums bleibt», sagt EVP-Präsident und Gemeinderat Hanspeter Schmutz, «eine Frau tut uns gut!» Gleichzeitig weist Schmutz darauf hin, dass die SP damit einen Fehler ausbügle, der ihr vor acht Jahren passiert sei: Damals trat die gewählte Maria Blaser-Böhlen ihr Amt aus beruflichen Gründen nicht an und machte Platz für einen Mann.

FDP-Präsidentin Franziska Vogt lässt durchblicken, dass Joss’ Rücktritt nicht ganz überraschend kam. «Die SP hat alles in die Waagschale geworfen und mit allen Kräften versucht, zwei Sitze zu halten», sagt sie. «Nachdem diese Taktik nicht aufgegangen ist, ist das gewählte Vorgehen zwar kaum ganz wählergerecht, aber trotzdem verständlich.»

Niklaus Hadorn, langjähriger SVP-Gemeinderat, erklärt, dass er den Wunsch nach einer Frauenvertretung im Gemeinderat «durchaus nachvollziehen» könne. Das Vorgehen der SP taxiert indes auch er als «demokratiepolitisch heikel» und fügt an: «Wir könnten eine solche Rochade auf jeden Fall nicht machen. Das würde nicht goutiert.»

Arnet bleibt motiviert

«Ich bin mir durchaus bewusst, dass meine Arbeit in den kommenden vier Jahren noch genauer beobachtet wird als ohnehin», sagt Antonietta Arnet selber. Dass das Vorgehen der Partei heikel sei, sei allen bewusst gewesen. «Wir haben auch sehr kontrovers diskutiert», sagt sie. «Allerdings habe ich bisher aus allen politischen Lagern mehrheitlich positive Rückmeldungen erhalten – nicht zuletzt auch auf meine Arbeit für die laufende Reorganisation der Schule.» Ob Antonietta Arnet diese auch in den nächsten vier Jahren vorantreiben kann, ist indes noch offen: Der Gemeinderat verteilt die Ressorts am 27. November.

PRO UND KONTRA: IST DIE ROCHADE DER SP MORALISCH VERTRETBAR?

Redaktor Marco Zysset, Pro: Souverän handelnde Politiker, keine Sklaven

Ein gewählter Gemeinderat tritt ab, um einer Frau wieder ins Gremium zu verhelfen, die abgewählt wurde: Dass der Sturm der Entrüstung nicht nur in sozialen Medien über sie hinwegbrausen würde, war den Exponenten der SP Oberdiessbach klar, als sie sich entschieden, diesen Polit-Schachzug durchzuziehen.

Wer der Partei jetzt indes lauthals vorwirft, sie missachte den Wählerwillen, der missachtet seinerseits, dass gewählte Amtsträger keinesfalls Sklaven eines nur vermeintlich homogenen Gebildes mit dem Namen Wahlvolk sind. In der Schweiz sind Politikerinnen und Politiker nicht nur fähig und willens, sondern geradezu angehalten, als eigenständige Persönlichkeiten aufzutreten und souverän zu entscheiden.

Auch wenn es immer weniger ins Demokratieverständnis und Weltbild einer immer grösseren Politklientel passt: Wenn ein Mann der Meinung ist, es habe zu wenig Frauen im Gemeinderat, steht es ihm frei, sein Amt zu ihren Gunsten zur Verfügung zu stellen. Wer das nicht einsehen will und akzeptieren kann, muss sich die Frage stellen lassen, ob er das Wesen und Wirken einer Demokratie verstanden hat. Eine funktionierende Demokratie kann und muss entgegengesetzte Meinungen aushalten. Und am Ende werden die viel zitierten Wähler bald wieder die Gelegenheit haben, zu zeigen, wie sie das Vorgehen der SP goutieren. Ich bin sicher, es wird solche geben, die das beherzte Vorgehen der SP schätzen und honorieren. Marco Zysset

Redaktor Roger Probst, Kontra: Kein Wunder, interessiert sich keiner mehr für Politik

Die Rochade der SP Oberdiessbach mag innerhalb der gesetzlichen Vorgaben sein, und trotzdem ist sie ein falsches Spiel. Das Wahlreglement und damit die Spielregeln sind bekannt – und zwar nicht erst seit gestern. Dank dem Proporzverfahren werden alle politischen Kräfte angemessen eingebunden. Ein hehrer Grundgedanke und wichtiger Grundpfeiler der Schweiz. Der Proporz hat aber auch Nachteile. Das steht ausser Frage. So werden nicht immer alle Politiker in ein Amt gewählt, welche die meisten Stimmen auf sich vereinigen. So geschehen in Oberdiessbach, so aber auch schon tausendfach geschehen in anderen Gemeinden. Wenn sich die SP Oberdiessbach am Proporz stört, dann soll sie die Anpassung des Wahlreglements anregen und nicht nach dem Urnengang lamentieren, wenn er nicht in ihrem Sinne abgelaufen ist.

Mit dem Argument, man könne mit einem Gemeinderat ohne Frau nicht leben, hält die SP ein Feigenblatt vor etwas, das nicht mehr zu bedecken ist. Hier geht es in erster Linie darum, die eigenen Vorstellungen durchzudrücken. Das ist einer Demokratie nicht würdig. Der Volkswille steht über allem – auch über den Befindlichkeiten einer Partei. Wenn er derart mit Füssen getreten wird, muss man sich nicht wundern, wenn sich keiner mehr für Politik interessiert.

Ich kann jeden Oberdiessbacher Stimmbürger verstehen, der sich veräppelt fühlt. Es ist zu hoffen, dass das Beispiel der SP Oberdiessbach nicht Schule macht. Roger Probst


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Erstellt: 27.10.2017
Geändert: 27.10.2017
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