Münsingen - Die Kriegs-Erinnerungen stören seinen Seelenfrieden

Bernd Thomson (85) erlebte eine friedliche Kindheit in Estland. Dann kam der Krieg in sein Leben: Er wurde ins Deutsche Reich umgesiedelt und musste 1945 für Hitler um Berlin kämpfen. Heute lebt er in Münsingen, doch die Erinnerung plagt ihn immer noch.

Dino Dal Farra / Berner Zeitung BZ

Bernd Thomson brüllt. Seine Frau Loni hat Mühe, ihn aus den fiebrigen Albträumen zu rütteln. Er fuchtelt und schreit: «Bomben! Deckung, jetzt, Angriff!» So ist es im Schlafzimmer der Thomsons ab 1970 mehr als zehn Jahre lang zu- und hergegangen. «Es war schlimm», sagt Loni Thomson. Ihr Mann winkt ab. «Ja, ja», sagt er. Das erste «Ja» sagt er lächelnd. Das zweite weinend. Heimlich.

Angst «totgesoffen»


Es ist der 20. April 1945, Hitlers Geburtstag. Auf dem Berliner Kurfürstendamm fahren die Autos nicht mehr. Bernd Thomson, der Hitlers hasserfüllte Reden als Kind durch den knatternden Äther am Radio hörte, steht jetzt am Brandenburger Tor. Er soll die Hauptstadt gegen die Russen verteidigen und den Endsieg erringen – zusammen mit einer Gruppe abgekämpfter, müder und halb verkrüppelter Wehrmachts-Soldaten. «Viele hatten nur noch ein Auge oder nur noch einen Arm», sagt Thomson. Voll mit Schnaps seien sie alle gewesen. Und voller Angst. «Wir haben sie regelrecht totgesoffen.» Am 29. März 1945 wird Bernd Thomson 18 Jahre alt. Erwachsen auf dem Papier, aber sonst noch ein halbes Kind, verloren in der Mausefalle Berlin. «Wir versteckten uns in Mannslöchern oder in Trümmern», erzählt Thomson. «Es war absurd. Wir sollten kämpfen, hatten aber keine Munition.» In diesem Krieg ist selbst das Warten fürchterlich. Angsterfüllt kauern Thomson und seine Mitstreiter teils nächtelang in Nischen und Ecken des Trümmerhaufens Berlin. «Angst. Überall Angst.»

Olympia 1936 nachgespielt

Am 29. März 1927 wird Bernd Thomson in Nömme geboren, einem kleinen Vorort der estnischen Hauptstadt Tallinn. Seine Familie gehört dem Stamm der Baltendeutschen an – einer gehobenen Gesellschaft mit verstaubten Ansichten von Sitte. «Ich musste jede Dame mit ‹gnädige Frau› ansprechen», sagt Thomson. «Dabei war ich so ein frecher Junge.» Seinen Eltern passt es nicht, dass er als kleiner Bube für den Gegenwert einer Schnapspraline Schlittenfahrten anbietet. «Der Schnaps war nicht das Problem, sondern die niedere Gesellschaft auf dem Schlitten», sagt Thomson schmunzelnd. Der freche Junge hält sich nicht zurück. Küsst in der Schule das blonde Mädchen im Nacken. Mit den anderen Kindern spielt er 1936 Olympia nach. Als Medaillen dienen Schokomünzen, in Bronze-, Silber- und Goldpapier gewickelt. Doch der Frieden der wohlbehüteten Kindheit verfliegt im November 1939, als die Familie ins damalige grossdeutsche Reich umgesiedelt wird.

Dem Tod ganz nahe

Ende April 1945 eskaliert die Situation in Berlin. Thomson sieht den Tod von ganz nahem. Er steht mit seinem Kameraden in einem Torbogen. Sie flüstern miteinander. «Ich fragte ihn was. Er antwortete nicht. Er antwortete nie mehr.» Granatsplitter töteten den Mann. Der 18-jährige Bernd will überleben. «Ein Soldat hielt seine Eingeweide in Händen, und er schrie nach Wasser, und wir wollten natürlich, dass es ihm besser geht, und dann kam ein Sanitäter und sagte, ‹ach, gebt ihm ruhig Wasser, der stirbt sowieso gleich›, und…» Ehefrau Loni fällt ihm ins Wort. «Jetzt machst du eine Pause», befiehlt sie ihm. Bernd Thomson tapert mit den Händen am Tischrand. «Ja, du hast recht, ach, das war alles…», dann winkt er ab. Lächelt und seufzt. Und schluchzt.

Lagerhäftling in Russland

Am 1. Mai 1945 kulminiert der sinnlose Krieg in der Apokalypse. Von den 100 Mann, denen Bernd Thomson Mitte April zugeteilt wurde, sind noch 32 übrig. «Die Russen waren schon überall und feierten.» Brennende Strassen erleuchten die Nacht. Chaos überall. Während die Waffen-SS den Rückzug anordnet, droht der Truppenkommandeur Thomson, ihn und seine Kameraden «auf der Stelle zu erschiessen», wenn sie nicht sofort wieder in ihre Stellungen gehen. «Überleben oder sterben? Ich wollte nur noch schlafen», beschreibt er die letzten Stunden des Kriegs, die er im Keller des Lessingtheaters zubringt. Am Morgen des 2. Mai erwacht er, von Sowjets umzingelt. «Die Befreiung vom Krieg bedeutete drei Jahre russische Kriegsgefangenschaft», sagt Thomson. Drei Jahre Schwerstarbeit auf dem Bau, dem Land und auf Bahngleisen in verschiedenen Lagern im Osten. Russisch kann der sprachbegabte Bernd Thomson zum Glück. Er hatte es sich beigebracht. Einmal fragt der damals 20-Jährige eine Lagerärztin: «Wann geht ein Zug für mich nach Hause?» Sie antwortet: «Warts ab, Jüngling, vielleicht bald.» Ob er dank seinem spitzbübischen Charme oder dank ihrer Barmherzigkeit um Weihnachten 1947 nach Deutschland zurückkehren darf, wird Thomson wohl nie erfahren.

In Bern als Konfi-Experte

Sein erster Job in der jungen BRD ist Arbeitsloser. Doch Bernd Thomson organisiert sein Leben neu. Er muss: Die besten Jugendjahre hat er in Krieg und Kerker verbracht. Vieles ist nun nachzuholen. So wird er Taxichauffeur, Hausierer mit Fleisch und Wurst, Marktbudenaufsteller und Hafenarbeiter. Nichts hat Bestand, aber Thomson lässt sich nicht unterkriegen. Eine spezielle Fähigkeit bringt ihn 1968 nach Bern: In Deutschland hat er sich nach dem Krieg in verschiedenen Lebensmittelfabriken zum Konservenexperten gemausert. Die Konservenfab-rik Véron AG heuert Thomson an, und der ausgebildete Obst- und Gemüsekonservierer unterschreibt. Seinen Job bestreitet er laut eigenen Angaben mit Bravour. «Ich musste Konfitüre kochen, Rezepte berechnen und die Qualität kontrollieren.» Ihm habe die Zeit in Bern sehr gefallen. «Da existierte tatsächlich ein unversehrter Fleck mitten im kriegszerstörten Europa.» In den Friedensjahren zwischen 1948 und 1968 in Deutschland hat Thomson unzählige Affären und heiratet zwei Frauen. Doch die Liebe währt nur kurz. Er lässt sich beide Male scheiden. Mit seiner dritten Frau Loni, die er 1970 mittels Kontaktanzeige in Wabern kennen gelernt hat, lebt er noch heute – 42 Jahre später – glücklich in einer kleinen Wohnung in Münsingen. «Sie ist die einzige Frau, von der ich sofort das Gefühl hatte, dass sie an dem, was ich erlebt habe, rege Anteil nahm.»

Zurück beim Frieden

Die Stimme des Bernd Thomson erzählt bemüht in Dur. Seine Erinnerung aber ist zu einem grossen Teil in Moll geschrieben – wie auch sein mittlerweile vergriffenes Buch über sein turbulentes Leben. Bis zur Zwangsumsiedlung im Jahr 1939 lebte Thomson in einem friedlichen Idyll in Estland. Den 12-jährigen Knaben, der Estnisch genau so beherrscht wie Deutsch, rissen die Nazis aus der Heimat und schickten ihn mitsamt der Familie in oft wechselnde Wohnungen in Grossdeutschland – dem heutigen Polen. Im Krieg kämpfte Thomson «für ein Vaterland, das gar nicht mein Vaterland war». Am 2. Mai 1945 pferchten ihn die Russen wie Vieh in einen Güterwaggon. «Ich schwor mir, nie mehr etwas zu glauben, was mir Menschen versprechen.» Wenn auch das menschliche Elend einen grossen Teil seiner Erinnerungen bevölkert, so kann Bernd Thomson heute doch wieder an etwas glauben. Er ist dorthin zurückgekehrt, wo er als Kind einmal war: in die friedliche Idylle.

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Erstellt: 10.07.2012
Geändert: 10.07.2012
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