Kiesen: "Die Leute hier sind freundlich und offen"
Seit bald 30 Jahren unterhält die Gemeinde Kiesen eine Partnerschaft mit dem tschechischen Želiv. Regelmässig finden gegenseitige Besuche statt. Michael Lìbl war erst als Übersetzer mit dabei, heute arbeitet er jeden Sommer in Kiesen. Sein liebster Arbeitstag ist Freitag – dann, wenn er mit dem "Ghüderauto" unterwegs ist.
Als Michael Lìbl (43) anfing, die Želiver Reisegruppe als Übersetzer zu begleiten, arbeitete er in seiner Heimat Želiv als selbständiger Lehrer für Deutsch und Englisch. Während des Sommers suchte er Arbeit. Er fragte Heinz Aebersold, den Gemeindeschreiber von Kiesen, ob er einen Bauern kenne, der Hilfe brauchen könnte. "Wieso ein Bauer?" habe Aebersold gesagt. "Du kannst bei uns arbeiten. Es gibt immer zu tun."
Müllabfuhr ist Höhepunkt
Mittlerweile unterrichtet Lìbl fest an einer Grundschule in Tschechien. Trotzdem ist er regelmässig im Sommer in Kiesen. Er befreit die Ufer der Aare und der Rotache von Müll, mäht den Rasen auf den Sportplätzen und repariert, was es am Gemeinde- und am Schulhaus zu reparieren gibt. Lìbl ist gelernter Schmid. Auch während des Studiums zum Sprachlehrer habe er verschiedene Jobs gehabt und körperlich gearbeitet: "Der Ausgleich gefällt mir."
Die schönste Aufgabe sei die Müllabfuhr am Freitag. "Da ist man zusammen unterwegs, kann sich unterhalten. Die Leute haben Freude und winken, man lernt die Gemeinde bis in alle Winkel kennen." Er räumt ein, dass er den Job vielleicht nicht so geniessen würde, wenn er ihn täglich erledigen müsste. So aber sei es das Highlight der Woche.
Ab 22 Uhr herrscht Ruhe
Wohnen tut Lìbl bei einer Gastfamilie, einem älteren Paar, das er nun schon lange kenne. So wie auch viele andere Kiesener:innen. "Ich werde oft angesprochen und eingeladen. Manche Leute bedanken sich für meine Arbeit." Sowieso erlebe er die Schweizer:innen als sehr freundlich und offen. "Man lächelt sich an, grüsst, interessiert sich füreinander und nimmt Rücksicht." Ihn habe erstaunt, dass man ein Gartenfest um 22 Uhr abbreche oder sonst die Nachbar:innen frage. "Bei uns interessiert man sich weniger dafür, ob man jemanden stört."
"Die Preise darf man nicht umrechnen!"
Was ihn in der Schweiz irritiere, seien die Tempolimiten auf den Strassen. Und die Autos, die nicht dazu passen wollten. "Ich habe noch selten an einem Ort so viele starke Autos gesehen, wie hier. Warum kaufen sich die Leute solche Autos, wenn sie nicht so schnell fahren dürfen?" Allerdings, das sei das Positive an den Limiten, habe er festgestellt, dass sein Skoda bei 120 Stundenkilometern am Sparsamsten sei. "Es macht ökologisch Sinn", so sein Fazit. Verrückt seien auch die Preise, etwa fürs Essen. "Da darf man nicht umrechnen, sonst kauft man nichts."
Lìbl ist leidenschaftlicher Töffahrer. Seine Kawasaki ZZ-R 600 steht zuhause in Želiv. Nach Kiesen hat er einen 400er Roller mitgenommen. Mit seiner Freundin Alena fuhr er zum Schwarzsee in die Freiburger Voralpen, tags zuvor nach Oberhofen an den Thunersee. Zur Schweizer Landschaft sagt er: "Želiv liegt im Hügelland, es ist schön dort. Aber die Berge und Flüsse hier gefallen mir schon sehr gut. Am Liebsten würde ich Alena alles zeigen, was ich schon gesehen habe."
Eine zweite Heimat
Als Deutschlehrer mag er die Bücher von Friedrich Dürrenmatt. Er hat sein Konolfinger Geburtshaus besucht. Auch ins Tessin, zum Haus seines Lieblingsschriftstellers Hermann Hesse, ist er schon gefahren. Neu bietet er in Kiesen einen Tschechischkurs an, für den man sich auf der Gemeindeverwaltung anmelden kann.
Michael Lìbl bleibt bis Ende August in Kiesen. Schon im Herbst wird er mit der Reisegruppe aus Želiv zurückkehren. Die Gäste werden vier Nächte in Kiesen verbringen und in Gastfamilien leben. Wer sich für diese Aufgabe interessiert, kann sich auf der Verwaltung melden. Nächstes Jahr werden wieder die Kiesener:innen zum Gegenbesuch aufbrechen.
Könnte er sich vorstellen, ganz in die Schweiz zu ziehen? Natürlich wolle er nicht weg von seinem Sohn, sagt er. "Aber hier in Kiesen könnte ich mir das durchaus vorstellen. Für mich ist es eine zweite Heimat geworden."