Kiesen - Mittelalter de luxe entschleunigte

Am Wochen­ende zog es Tausende an den vierten Mittelaltermarkt. Historische Klänge, feilgebotene ­Ware, zünftige Speisen, altes Handwerk und unblutige Schaukämpfe sorgten für wohlgemutes Treiben.

Christina Burghagen, Berner Zeitung BZ

Ei, schauet, welche Pracht sich zutrug vor den ­Toren Chisuns! Der Gedanke ans Mittelalter lässt viele Assoziationen zu: Bodenständige Zünfte, lüpfige Melodien und Kerzenschein – aber auch hygienische Herausforderungen, böse Krankheiten und unfähige Quacksalber kommen einem in den Sinn. Ein Mittelaltermarkt heutzutage ist die ­romantische «De-luxe-Ausgabe» der damaligen Zeit. «Man muss schon ein bisschen schräg sein, um für eine Seifenpaste nach historischem Rezept fünf Stunden am Seifenbottich zu stehen», erzählt Jocelyne Piatti hinter ihrer Seifenauslage grinsend. Die mittelalterlich gewandete Frau liebt es, an historische Märkte zu gehen: «Nein, ich hab keinen Flyer, ich spreche lieber mit den Leuten!» Wenn die Seifensiederin ins Erzählen kommt, schäumt ihr historisches Wissen schier über. «Keiner weiss, warum die Kernseife eigentlich Kernseife heisst», sagt sie, kichert sympathisch und liefert auch gleich die Antwort: «Natriumsalze und Fettsäure sind quasi der Kern einer jeden Seife, aus denen dann die Fein­seifen entstehen.»

Ein paar Schritte weiter bearbeiten am langen Tisch ein Dutzend Kinder Specksteine, um Amulette herzustellen. Aus Beton gegossene Gargoyles, herzig anmutende Drachen, grinsen oder schmollen auf ihren Sockeln. Heike Theiler führt mit ihrem Mann Roger das Drachenheim, in dem mystische Figuren für Haus und Garten zu Hause sind. «Ich bin die Heimleiterin», stellt sie sich humorig vor, und auf die Frage nach der Faszination für Mittelaltermärkte ist ihre Antwort kurz und knackig: «Es entschleunigt!»


«Ich habe das Holzgen!»

Holzschatullen in allen Grössen und in vielen Farbgebungen sind die Leidenschaft eines Toggenburger Händlers, der auch Schwerter und Schilder für Kinder im Sortiment führt. «Eigentlich habe ich Koch gelernt, aber Holz zu bearbeiten, liebe ich.» Als der Kunstschnitzer seine Familiengeschichte jüngst aufarbeitete, staunte er nicht schlecht, dass seine Vorfahren überwiegend Schreiner und Tischler waren. «Kein Wunder, hab ich das ­Holzgen!» stellt er mit herzigem toggenburgischem Zungenschlag fest.

Eine einsame Bratwurstschnecke von beachtlicher Grösse wartet auf Hungrige. Der Ochse am Spiess hat schon deutlich an Gewicht verloren. Vorbei geht es am Stand, wo stilecht bekleidete Herren Äxte an eine Wand schleudern. Eine Sackpfeife und wummernde Trommeln ertönen vor «Knorrlis Schenke». Doch so mittelalterlich die Klangfarben des österreichischen Ensembles Abinferis tönen, so überraschend erscheint ihr Repertoire mit «Smoke on the Water», «House of the Rising Sun» oder «Whiskey in the Jar». Kinder hüpfen aus­gelassen vor den «teuflischen Spiellyt», wie sie sich nennen, zur Musik herum, eine Frau in wallendem Kleid und historisch frisiert ruft laut: «Jubel!» Zahllose Frauen und Männer haben es sich am Markt nicht nehmen lassen, ihr schönstes historisches Kleid anzulegen. Nicht selten sieht man Pelz, nicht neu, dafür oft Fuchsstolen samt Füssen und Kopf.

Das Ensemble Mirabilis spielt auf und hat sich alten Schweizer Tänzen und Liedern aus der Zeit um 1540 verschrieben. Mit Drehleier, Flöten, Mandora, Gesang, Dudelsäcken, Schalmeien, Pommern, Pauken und Trommeln pflegen sie die Musik aus Mittelalter und Renaissance. Die Gaukler schnüren ihr Bündel, Ritter packen ermattet vom Schaukampf ihre Schwerter und Schilde ein.

Das Mittelalter in Kiesen weicht der modernen Welt, und einige der stilecht verkleideten Teilnehmerinnen und Teilnehmer lassen sich im Garten des ­nahe gelegenen China-Restaurants zum Nachtmahl nieder.


Autor:in
Christina Burghagen, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 29.08.2017
Geändert: 29.08.2017
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